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Wien diskutiert neue Laufwege am Zentralfriedhof
Der Zentralfriedhof als Sehenswürdigkeit
Im Jahre 1870 gewinnen die beiden Gartenarchitekten Karl Jonas Mylius und Alfred Friedrich Bluntschli die Ausschreibung für die Planung des „Central-Friedhofes“ in Wien. Der damals schon großzügig angelegte Friedhof sollte 1874 eingeweiht werden und bis 1921 noch sieben Mal erweitert werden, seitdem besteht er in der jetzigen Größe.
„Keine Stadt rechnet ihre Toten so fröhlich zu den Lebenden“, schrieb einst Dirk Schümer in der FAZ über den Wiener Zentralfriedhof und er hat durchaus Recht mit seiner Einschätzung der Situation. Der Friedhof ist weit über die Wiener Grenzen hinaus bekannt und das nicht nur für seine Architektur und Jugendstil-Bauwerke, sondern auch für seine vielen Ehrengräber. Hochrangige Politiker finden hier ihre letzte Ruhe, wie auch viele Figuren aus der Pop- und Hochkultur. Dazu gehören Namen wie Peter Fendi, Udo Jürgens, Johann Strauss oder Falco.
Der einst bei der Bevölkerung unbeliebte Zentralfriedhof galt als karg und zu weit draußen. Über die Jahre hinweg wurde der Friedhof jedoch ein immer wesentlicher Bestandteil Wiens, auf der einen Seite durch infrastrukturelle Anbindungen durch den ÖPNV, auf der anderen Seite durch das kontinuierliche Wachstum der Stadt. Galt der Weg 1874 „als eine Stunde Fahrzeit, zwischen Schlachthäusern und Heide und Bauern“, kann heute davon kaum mehr die Rede sein. Das kontinuierliche Wachstum der Stadt stellt aber auch die immer dringlichere Frage nach der Nutzung von Flächen innerhalb eines urbanen Raumes.
Der Zentralfriedhof als Biotop
Die Frage nach der Flächennutzung ist nämlich eine Frage, die weniger die Touristen und Touristinnen in der Stadt betrifft, sondern viel mehr die Anwohner und Anwohnerinnen. Zwar handelt es sich bei dem Zentralfriedhof um die letzte Ruhestätte vieler und um einen Ort des Trauerns für die Angehörigen, er ist aber auch ein voll Funktionsfähiges Biotop, für welches bis in die 80er Jahre hinein sogar ein Jäger zur Regulierung des Bestandes angestellt war.
Aus diesem Faktum heraus lässt sich ein Argument für den Wunsch der Wienerinnen und Wiener nach einem Friedhof als Naherholungsgebiet konstruieren, welche gerade in wachsenden Städten von zunehmender Relevanz sind. Die Diskussion über den Nutzen des Wiener Zentralfriedhofes als Naherholungs- und Sportraum fand in den letzten Jahren durch Kommentare in der Medienlandschaft, beispielsweise in der Presse oder im Standard immer wieder Momentum. Ein neuer Meilenstein in dieser Diskussion ist allerdings die Eröffnung der beiden Laufstrecken „Silent Run I & II“, denn sie Untermauern die Relevanz des Friedhofs als Parklandschaft und verleihen diesem Argument offiziell Legitimität.
Die Eröffnung im März wurde begleitet von einer offiziellen Enthüllung der Übersichtstafeln auf dem Gelände und einem Eröffnungsfest beim Tor Nummer zwei. Verschiedene Laufevents und eine Performance der Band „DIE3“ standen dabei im Mittelpunkt. „Der Friedhof als Ort der Besinnung und als Lebensraum stellt keinen Widerspruch dar. Ich finde es einen schönen Gedanken, unsere Verstorbenen an unseren Leben teilhaben zu lassen. Veranstaltungen wie diese sollen das Interesse an unseren wunderschönen Friedhöfen wecken und zum Besuch einladen“, findet Mag.a Renate Niklas, Geschäftsführerin der Friedhöfe Wien.
Der Zentralfriedhof ist aber eben auch ein Friedhof
Demgegenüber stehen allerdings auch zahlreiche in den Medien zu findende Einzelkommentare, denen durchaus auch eine Legitimität zugesprochen werden muss. So ist unter einem im Standard veröffentlichten Kommentar zu lesen, dass „wenn ich am Grab meiner Tochter stehe und weine will ich bitte nicht, dass eine Horde vorbeirennt. Danke.“ Das liest sich unangenehm und spiegelt wieder, dass Friedhöfe nicht nur einen Lebensraum, aber für den trauernden Teil der Gesellschaft, der in diesem Moment sehr verletzlich sein mag und sich in seiner Trauer entblößt fühlt, auch einen geschützten Raum darstellt. Einen Raum an dem Trauer legitimiert ist und eine Form der unsichtbaren Kollektivität unter den Menschen schafft, die zum Trauern an den Friedhof gekommen sind.
Am Zentralfriedhof finden täglich zwischen 20 – 25 Beerdigungen statt. Das Prozedere ist also noch durchaus aktiv und da sich auf dem Friedhof nicht nur eine Religion, sondern zahlreiche unterschiedliche Religionen zum Trauern und Beerdigen einfinden, kann der Diskurs auch nicht an nur am katholischen Totenkult festgemacht werden. Viktor Wagner, ein Mann jüdischen Glaubens, findet den Trend zum Laufsport als „absolut entwürdigend und wirklich entweihend“. Er sieht die Totenruhe nach jüdischen und anderen Glaubensrichtungen vor allem in der Knappheit der Sportmode im Sommer gestört. Dem versucht die Erzdiözese Wien entgegenzusteuern, indem zum Beispiel auf dem jüdischen Friedhofsteil durch Schilder dazu gemahnt wird, hier keinen Sport zu machen.
Die neuen Rennwege sollen den Zentralfriedhof als Naturraum der Öffentlichkeit nahbar machen, ohne dass der trauernde Teil der Bevölkerung durch diese gestört wird. Allerdings ist generell, bis auf Ausnahmen wie am neuen jüdischen Friedhof, der ganze Friedhof offen für sportliche Aktivitäten. Die Friedhofsleitung sieht hier ihre wichtigste Aufgabe in der Aufforderung zur Rücksichtnahme und diese auch einzufordern. Daher kommt auch der Name „Silent Run“: der Nutzen des Friedhofs soll eben auch immer in Andacht an die Toten geschehen. Auf der einen Seite steht das Allgemeininteresse einer wachsenden Stadt nach Grünflächen, die jedem Zugänglich sind. Auf der anderen Seite steht das Schicksal und das Interesse von Einzelnen, die nach einem Ort zum trauern und zum verletzt-sein suchen.
Ein Kompromiss, der schwierig zu gestalten ist, was meinen Sie?
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