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Verlogenes Bildungsbürgertum gefährdet sozialen Frieden

Vermummte griechische Demonstranten im Tränengas.
© flicker.com / murplejane | Die hohe Arbeitslosigkeit - in Kombination mit bevorstehenden Einsparungsmaßnahmen - war ein wesentlicher Faktor hinter den Protesten in Griechenland zwischen 2010 und 2012.

Zur Verlogenheit des österreichischen Bildungsbürgertums und ihrer Proponenten. Eine ideologische Pseudodiskussion zum Thema "differenziertes Schulsystem".

Österreich zählt zu den letzten 3 Ländern, die im gesamten EU-Bildungsbereich eine äußere Differenzierung der Schüler ab dem 10. Lebensjahr zwingend vorschreibt. Eine Idee, die aus der Bildungsreform von Maria Theresia stammt also rund 300 Jahre alt ist.

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Kommentar von Walter Strobl, Vizepräsident d Stadtschulrates a.D., zum Kurier-Artikel "Die verlorene Generation - Jeder dritte Schüler wird keinen Job finden" vom 13.3. 2016

Das Übel der äußeren Differenzierung in Österreichs Schulsystem

Österreich ist in allen Bildungsmonitorings international oder national bestenfalls durchschnittlich positioniert - behauptet aber in internen Diskussionen, das beste Bildungssystem zu besitzen. Ein Blick auf alle Ballungsgebiete entlarvt diese Verlogenheit.

Jeder österreichische Bildungsbürger will für sein Kind die beste und bestmögliche Bildung. Durch die Abschaffung der Aufnahmeprüfung (für das Gymnasium) gelten im Sinne der äußeren Differenzierung nun die Abschlussnoten der 4. Klasse Volksschule als Zuteilungskriterium - gibt es, dort wo das Schulangebot dicht ist, einen Sturm auf die AHS.

Das Gymnasium (die AHS) im Ballungsgebiet ist zu einem Massen-Volksgymnasium mutiert, mit mittlerweile knapp 61% Schülerjahrgangsanteil an den 10-Jährigen. Dadurch müssen die Gymnasien 4 bis 7 erste Klassen eröffnen - egal, ob der Platz und die Schulräume vorhanden sind oder nicht….

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Nach der 4. Klasse (8.Schulstufe) bricht dann die Masse der Schüler weg und es bleiben im Durchschnitt 2 Klassen für die Oberstufe, die dann bis zur Matura geführt werden.

Nachdem es im Ballungsbiet Wien, mittlerweile 93 Gymnasien und 120 Neue Mittelschulen (vormals Hauptschulen) gibt, ist allein schon die Wahlmöglichkeit für Eltern und ihre AHS-reifen Kinder verlockend groß. Aufgrund des großen Andranges an manchen Standorten, werden bereits Kinder mit zwei Zweiern im Zeugnis (der Volksschule) auf Wartelisten gesetzt und oft erst im zweiten Verteilungsdurchgang dann einem noch kapazitätsausbaufähigen AHS-Schulstandort zugeteilt.Soweit die verrückte Schulwahleinteilung und die Konstruktionen, um möglichst viele Kinder in der AHS aufnehmen zu können.

Wie aber sieht die bildungspolitische Realität mit dem Rest der Schüler aus?
Wer also keinen Platz mehr im Gymnasium findet oder im Lauf der ersten 4 Schuljahre im Gymnasium, dieses wieder verlassen muss, landet also in der Neuen Mittelschule (vormals Hauptschule). Diese Neue Mittelschule ist also im Ballungsbiet nicht viel anders zu verstehen als ein Auffangbecken für all jene Schüler, die gemäß den Noten-Aufnahmespielregeln in kein Gymnasium passen oder von dort wieder weggehen (müssen).

Nachdem es zwischen Neuer Mittelschule und Gymnasium in der Leistungsgruppe 1 (der Neuen Mittelschule) und dem Gymnasium einen wortidenten Lehrplan gibt, hat das schwerwiegende Folgen - zumindest für die ehemalige Hauptschule - sie wird im Ballungsgebiet tatsächlich zu einer sozialen und leistungsmäßigen Restschule. Eine Restschule, in der es nur wenige Schüler schaffen, am Ende der Neuen Mittelschule, an die Anforderung des wortidenten Lehrplans des Gymnasiums heranzukommen. Warum wohl?

Wer halbwegs intelligent und nicht ideologisch verbohrt, rechnen kann, wird erkennen - wenn man bereits alle Kinder (rund 61% eines Schülerjahrgangs sitzt in Wien in der Unterstufe des Gymnasiums), die der Leistungsruppe 1 (RG-Lehrplan) im Gymnasium sitzen habe, dann fehlen mir diese Leistungsträger "naturelment" - in der (vormaligen Hauptschule=Neue Mittelschule).

Sie beherbergt faktisch nur mehr jene Schüler, die in jedem Fall einen anderen Lehrplan und auch Förderung brauchen (und diese auch nur in der Neuen Mittelschule bekommen können, weil das Gymnasium Leistungsdifferenzierung und eine dazu passende Förderung nicht anbieten kann und auch gar nicht darf) - sie ist also eine Restschule.

Egal, welche Reformen ich dort erfinde oder ihr neue Namen gebe (Neue Mittelschule) - in diese Schule will niemand gerne gehen - weil sie letztlich eine Ghettoschule ist. Sie ist und bleibt eine Restschule mit hohem Sozialsprengsatz.

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Wer also kann so ein System in heutiger Zeit für besonders klug und intelligent halten?
Ist es wirklich eine vernünftige und erklärbare oder gar berechtigte Angst der bürgerlichen Bourgeoisie? Es scheint vielmehr, dass in der öffentlichen Diskussion ständig versucht wird, eine „leistungsfeindliche Pseudoideologie“ - aus den Resten der 60er und 70er Jahre künstlich hochzuhalten, um damit, vor allem bei den bürgerlichen Schichten, „Angst und Sorge“ zu erzeugen beziehungsweise aufrecht zu erhalten.

Tatsächlich ist es genau jene Gruppe, die diesen gesellschaftlich gefährlichen sozialen Sprengsatz einer Restschule oder Ghettoschule im Ballungsgebiet erst erzeugt. Die dann noch verstärkend mit nacktem Finger auf die (Hauptschule) Neue Mittelschule zeigt und klagt: „pfui, die bringen ja nichts zusammen“, und die die Berührung der eigenen Kinder mit schwächeren Schülern (aus der Neuen Hauptschule) verachtend als Krankheitsübertragungsgefahr definiert. Oder handelt es sich um eine bürgerliche Überheblichkeit, die standespolitische Dünkel einer Lehrerkaste - für eine gesellschaftspolitisch tragbare und vernünftige Ideologie hält?

Was auch immer, die katastrophale Wirkung der äußeren Differenzierung hat vor allem im Ballungsgebiet sichtbar dramatische Auswirkungen für die Restschule "Neue Mittelschule" und kostet den Staat in der Doppelgleisigkeit des Schulsystems und in den sozialen Folgewirkungen enorm viel Geld.

Nur im ländlichen Raum funktionierte und funktioniert schon lange eine „gemeinsame Schule“ bis zum 14. Lebensjahr - die ehemalige Hauptschule und jetzt die Neue Mittelschule. Hier arbeiten Kinder aller Schichten und unterschiedlichster Begabungen, gemeinsam – ohne Angst vor einem ansteckenden Virus, eines allgemeinen Niveauverlustes. Rund 50% aller (vormaligen Hauptschulabgänger) haben schon bisher in einer höheren Schule (ab dem 14 Lebensjahr) eine Matura abgelegt. Grund für dieses gesellschaftlich anders geartete Verhalten als im Ballungsgebiet, ist meist die räumlich, oft große Entfernung zum nächsten AHS-Standort.

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Wer also kann hier bei diesen beiden Mustern in Österreich noch frohen Mutes und vollkommen weltfremd, vom besten Schulsystem sprechen?
Ein Blick auf internationale Statistiken zeigt, dass bis auf wenige Länder wie Österreich oder Deutschland (dort allerdings ergänzt um die Realschule mit mittlerer Reife), es nirgendwo eine so frühe äußere Differenzierung gibt, wie in Österreich und Deutschland ab dem 10. Lebensjahr.

Im internationalen Durchschnitt wird frühestens mit 12 meist aber mit 14, 15 oder sogar oftmals erst mit 16 Jahren differenziert. Es handelt sich überall um eine gemeinsame Schulen mit innerer Differenzierung - mit Förderungen und Zusatzangeboten für die Schnelllerner und Unterstützung für langsamere Schüler und das alles unter einem Dach - ohne, dass es zu einer oft behaupteten gefährlichen Ansteckung durch die Leistungsminderungskrankheit (=Nivellierung nach unten…) durch gemeinsame Unterricht im gleichen Klassenraum, gekommen wäre. Im Gegenteil, die soziale Integration, der zusätzliche Support für einzelne Standorte durch Sozialindexerstellung (für den jeweiligen Standort) funktioniert in den meisten Ländern viel besser als in Österreich.

Insgesamt stellt sich die Frage, nach den internationalen verschiedenen Monitorings – ob uns das Abschneiden dort egal ist und warum ausgerechnet Österreich glaubt, in seinen Strukturen nichts ändern zu müssen. Wir liegen überall nur im Mittelfeld, haben eine starre äußere Differenzierung ohne große Erfolge und dazu auch noch eines der teuersten (dafür aber ein eher ineffizientestes Bildungssystem). Man beachte nur den gigantischen Nachhilfemarkt.

Die Bundesländer Vorarlberg, Tirol und Salzburg sind daher mit ihren Forderungen nach Änderung des Schulsystems und mit der Durchführung von spezifischen Modellregionen - Hoffnungsträger, für eine neue Entwicklung und einen neuen Entwicklungsschub in die Zukunft. Eine Bewegung herausaus dem verkrusteten und erstarrten System Mariatheresianischer Prägung. Die Welt (in Österreich) kann ganz offensichtlich nur zögerlich in kleinen Schritten den Aufbruch in die Zukunft schaffen. Es ist gut so, wenn wir endlich beginnen, diese kleinen Schritte zu setzen.

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Karl

14. Juni 2016 - 12:18 Uhr

Unser ganzer Wohlstand, unser westlicher Lebensstil und letztlich die Attraktivität, die (West-)Europa auf die ganze übrige Welt ausübt, basiert nicht darauf, dass hier alles gleich ist, alle das Gleiche tun, alle das Gleiche haben - sondern aus differenzierten Möglichkeiten, die grundsätzlich allen offen stehen. Überall dort, wo man diesen zutiefst menschlichen Wunsch nach individueller Lebensgestaltung mit Gewalt unterdrückte, waren die Folgen desaströs - obwohl alle nur "das Beste" wollten.Aber es sind trotzdem nicht nur "die Bürgerlichen", die für ihre Kinder nicht "die gleiche", sondern "die beste" Schulbildung wollen. Das beweisen auch die "Gymnasial-Quote" in den nicht klassisch bürgerlichen Bezirken Wiens, beispielsweise in Ottakring. Da müssen also wohl jede Menge linker, alternativer, grüner und pinker und sonstiger Eltern ihre Kinder auch ins Gymnasium schicken. Mit den Bildungsbürgern allein, egal wie "verlogen", gingen sich nämlich diese Gymnasial-Quoten bei weitem nicht aus. Das heißt unterm Strich: die Eltern haben längst abgestimmt über die gemeinsame Schule der 10 - 14-jährigen, sie stimmen mit jedem Schuljahr wieder ab und das Ergebnis wird von Jahr zu Jahr deutlicher.

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Rukiye

13. Mai 2016 - 13:18 Uhr

wahre Worte, toller Artikel!

Martin

26. März 2016 - 21:01 Uhr

Sehr viel Wahres in diesem Artikel. Gemeinsame Schule der 10 - 14 jährigen kann nur dann erfolgreich sein, wenn grundlegend neue Rahmenbedingungen geschaffen werden. Hier ist viel Geld aufzubringen, damit moderne Schulräume geschaffen und Personalressourcen aufgestockt werden. Am Land (vgl. Vorarlberg) sind die Schulen heute bereits besser ausgestattet als die meisten Schulen in Wien, deren Schulgebäude oft aus der Gründerzeit stammen. Derzeit werden in Wien Informatikräume abgebaut, um Schulraum zu schaffen. Bei grundlegenden Reformen und Geldmittel setze ich große Hoffnung in ein neues Schulsystem. Lässt man Strukturen gleich kann der Schuss nach hinten losgehen. War 30 Jahre Pflichtschullehrer in kath. Privatschule. Am Anfang meiner Tätigkeit sah ich HS (trotz Leistungsgruppensystem) nie als Sackgasse. Jahrgang 1994 (von 24 Hauptschülern haben 15 maturiert. Darunter sind heute Rechtsanwälte, Informatiker, Unternehmer und Künstler - war aber ein besonderer Jahrgang). Habe miterlebt wie das Niveau Jahr für Jahr nachgelassen hat.Seit 2015 bin ich krankheitsbedingt in Pension, blicke aber auf schöne 30 Jahre als Lehrer zurück.Martin Leitner

Josefine

26. März 2016 - 20:39 Uhr

Bitte wer hat die Verlinkungen zu Facebook gemacht ? Da steht doch 'gefärdet' ! Sonst sehr guter Artikel. Beste Grüße JNK

Franz

24. März 2016 - 17:49 Uhr

Nach 21jjähriger Erfahrung als Direktor einer HS-KMS-dann NMS kann ich diese Analyse nur vollinhaltlich bestätigen.Franz Hartmann

Heidi

24. März 2016 - 16:35 Uhr

Hervorrander Artikel!

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