Kunst & Kultur
Schielen in der bildenden Kunst
Eine Untersuchung aus medizinischer Sicht
Die Wiener Augenärztin Elfriede Stangler-Zuschrott beobachtete an Skulpturen der klassischen Kunstgeschichte nicht selten ein Schielen der Protagonisten, vor allem an Werken der Spätgotik ( Veit Stoß u.a.) und des Barock. Diese Fehlstellung der Augen und der Blickrichtung ist immer ein Divergenzschielen, also nach auswärts gerichtet. Da die Erkenntnisse der modernen Medizin in früheren Zeitepochen wohl nicht zur Verfügung standen, suchte Elfriede Stangler-Zuschrott anhand von Büchern und eigenen Untersuchungen nach einer möglichen Erklärung des Phänomens. In der Literatur war es bisher nur als Ausdruck von Entrückung, Ekstase und Hysterie bekannt.
Differenzierte Darstellungen der Augen kommen mit dem Entstehen antiker Hochkulturen auf. Die Augen ägyptischer Plastiken sind oft mit unterschiedlichen Materialien eingelegt, wie Bitumen, Milchquarz oder Bergkristall. Prominente Ausstellungsstücke sehen stets makellos und gottähnlich aus, ohne ein körperliches Gebrechen. Jedoch zeigen einzelne Grabbeigaben der Ägypter eine divergente Stellung der Augen, etwa die sog. Uschebtis, das sind kleine, mumienartige Figuren, die für den Verstorbenen im Jenseits Arbeiten verrichten sollten, und gewissermaßen erst dort lebendig werden.
Die Sarkophagdeckel der Etrusker hatten die Form von Menschengestalten. Auf einem Ruhebett liegend, jedoch mit aufrechtem Oberkörper, sollten sie der Nachwelt ein lebendiges Abbild des Verstorbenen übermitteln, Schielen wäre dabei störend. Eine der Autorin bekannte Ausnahme eines Sarkophages zeigt das Porträt des Wahrsagers Aule Lecu, dessen Augen, obwohl verschleiert, nach außen und oben gerichtet scheinen, was wahrscheinlich als Trance-Zustand zu interpretieren ist. Eine zweite Ausnahme bilden zwei plastische, zur Gänze liegende Körper mit deutlich divergentem Schielen, dies weist offensichtlich auf Tod oder Krankheit hin. Auch bronzene Geistergestalten als Totenwächter eines etruskischen Grabes schielen auffallend.
Nachdem sich die Kunst der römischen Kaiserzeit vorwiegend am klassischen Hellenismus orientiert, und die Augendarstellung im frühen Christentum durch das Einarbeiten großer Pupillenlöcher geprägt ist, lässt sich das Phänomen des Schielens erst wieder in der romanischen Bauplastik beobachten. Der Teufel in Menschengestalt an der Apsis von Schöngrabern (NÖ) schielt aus einem tierähnlichen Gesicht (1210-1230 n.C.), als Dämon charakterisiert.(Abb.2). Wie in der Antike symbolisiert auch in der Romanik Divergenzschielen Sterben und Tod, etwa bei Kruzifixen, wie dem Volto Santo von Lucca (8. Jh.), nicht jedoch bei den sog. Triumphkreuzen.
Mit Beginn des 14. Jahrhunderts wandelt sich die Bedeutung des divergenten Schielens, jetzt findet man es auch bei Figuren, die als Lebende dargestellt sind. In einer Schnitzgruppe von 1310 wenden Jesus und der ungläubige Thomas jeweils ein Auge dem anderen zu, während das zweite geradeaus gerichtet ist, sodass Kommunikation zwischen den Protagonisten, zugleich aber auch mit dem Betrachter vermittelt wird. Ebenso blicken gotische Madonnen nicht selten sowohl auf ihr Kind als auch auf das Publikum, als wollten sie Kontakt zwischen beiden herstellen.(Abb.2, Madonna col bambino, 1403). In spätgotischen Kreuzigungsgruppen beschränkt sich das Prinzip der nach außen gelenkten Augen nicht mehr auf den ans Kreuz Geschlagenen, als akute Gemütserregung erfasst es auch Maria (Abb.4) und andere Assistenzfiguren. Aber nicht nur Schmerz und Trauer, auch Entzücken und Ekstase finden so ihren Ausdruck, etwa am Beispiel einer Verkündigung. Divergent schielende Augen dienen auch noch im Barock zur Vermittlung intensiver Gemütsbewegung, die erst nach der Aufklärung und deren naturwissenschaftlich orientierter Grundhaltung nicht mehr dem künstlerischen Interesse entspricht.
Als Bestätigung der beschriebenen Interpretation des Schielens in Gotik und Barock zitiert Elfriede Stangler-Zuschrott ein medizinisches Lehrbuch von 1732, in welchem den einzelnen Augenmuskeln emotionale Qualitäten zugeordnet werden. So wird etwa der Augensenker als der „demütige“ Muskel bezeichnet und ein anderer als „Liebesmuskel“.
Die Beurteilung des Phänomens als tatsächliche Intention des Künstlers muss jedoch stets auf die Position der jeweiligen Figur im Raum Rücksicht nehmen, da die Perspektive deren Augenstellung verfälschen kann. Weiters ist nicht auszuschließen, dass eine historische Gestalt vielleicht wirklich ein medizinisches Problem hatte. So könnte sich Meister Anton Pilgram bei seiner Arbeit als Steinmetz Abb.3 eine Augenverletzung mit nachfolgendem Schielen zugezogen haben. Sein Selbstporträt im Wiener Stephansdom (1513) lässt dies vermuten.
Quelle:
UNIVERSITÄTSPROFESSOR
DR. ELFRIEDE STANGLER-ZUSCHROTT
FACHÄRZTIN FÜR AUGENHEILKUNDE U. OPTOMETRIE
Hintzerstraße 2/1, 1030 Wien
Telefon: 01/7147760
Telefax: 01/7187760
E-Mail: e.stangler-zuschrott(at)strabologie.at
Hinterlassen Sie einen Kommentar!
weitere interessante Beiträge
Johannes
08. September 2017 - 12:59 Uhr
Ein sehr spannendes Thema! Würde gern mehr davon lesen...